Der aktuelle Umbruch des Hochschulwesens reicht weit über die mit dem Label "Bologna- Prozess" versehene Einführung von Bachelor- und Masterprogrammen hinaus. Er betrifft auch die grundlegendere Frage nach den Zielgruppen, die Hochschulen adressieren sollen bzw. werden, und der daraus resultierenden Konsequenzen für die inhaltliche, methodische und organisatorische Ausgestaltung von Studienangeboten. Es geht um die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung von Hochschulen für lifelong learning: eine grundlegende Herausforderung für die strategische Ausrichtung des Hochschulwesens, die in anderen Industrieländer zum Teil bereits stattgefunden hat (Faulstich 2005).

Die Hintergründe für diese Entwicklung sind vielfältig: - Zunehmend ziehen Abiturient/innen eine Berufsausbildung dem Studium vor oder brechen ihr Studium ab, wenn sich ihnen andere berufliche Optionen bieten. Wenn sie sich zu einem späteren Zeitpunkt für ein Studium interessieren, verfügen sie über berufliche Erfahrungen und Kenntnisse, die sie in üblichen Studienangeboten kaum einbringen bzw. anrechnen können. - Bachelor-Absolvent/innen werden nach Abschluss ihres Studiums, so zumindest die politische Intention, vermehrt in eine Berufstätigkeit münden. Dieser Schritt dürfte ihnen erleichtert werden, wenn weiterführende (Master-) Studien begleitend zur Berufstätigkeit oder im Anschluss an eine Phase der beruflichen Tätigkeit angeboten werden, mit dem ein weiterer akademischer Abschluss erworben werden kann, der berufliche Vorkenntnisse und -erfahrungen berücksichtigt bzw. inhaltlich und methodisch aufgreift und sich organisatorisch mit einer (ggfs. reduzierten) Berufstätigkeit kombinieren lässt. - Durch die gesellschaftliche Forderung nach beruflicher Flexibilität des Einzelnen, der Notwendigkeit des ständigen Weiterlernens, des Zuwachses an Wissen in vielen "wissensintensiven" Berufstätigkeiten, verschiebt sich die Relevanz vom Erststudium zunehmend hin zu einem lebenslangen, auch berufsbegleitenden Lernen, bei dem Menschen und Unternehmen am wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt teilhaben können. - Zugleich stagniert an deutschen Hochschulen die Zahl der Studienanfänger. Im internationalen Vergleich ist der Anteil eines Jahrgangs, der ein Studium aufnimmt, in Deutschland auffallend gering. Auch diejenigen, die sich für ein Studium entscheiden, schließen dieses häufig nicht ab (hohe Abbruchquoten). Das Hochschulsystem kann damit den gesellschaftlichen Bedarf an Absolvent/innen mit einer wissenschaftlich fundierten Erstausbildung kaum decken.

In den USA stellen sog. „nicht-traditionelle“ Studierende bereits 84% aller Studierenden (Röbken 2007).1 In Großbritannien ist die Open University mit etwa 180.000 Studierenden inzwischen die größte Universität Europas, in der 70 Prozent der Studierenden einen wissenschaftlichen Abschluss neben eine Vollzeit-Berufstätigkeit anstreben und in Finnland übersteigt die Zahl der Teilnehmenden an Weiterbildungsangeboten bereits die der traditionellen Studierenden (vgl. Hanft & Knust 2008). In Deutschland ist der Anteil der Hochschulen an "Teilnahmefällen" der Weiterbildung seit 1991 mit ca. 4% nahezu konstant geblieben (Berichtssystem Weiterbildung IX, BMBF 2006). Von ca. 1.600 akkreditierten Bachelor- und 1.500 Master-Studiengängen (Stand: 31.12.07) sind 136 Angebote als Teilzeitstudien auch für Berufstätige geeignet; 71 Studiengänge sind als Fernstudien ausgewiesen. Nur 25 Studienangebote davon können in Teilzeit absolviert werden (zum Status des E-Learning an deutschen Hochschulen im europäischen Vergleich: s. Kerres & Nübel (2005).

Die Verzahnung von Erststudium und Angeboten für Berufstätige ist damit international bereits wesentlich stärker vorangeschritten. Das Lernen an Hochschulen ist nicht mehr auf eine kurze Lebensphase nach dem Abitur beschränkt, sondern begleitet das gesamte Erwachsenenleben und schließt Zielgruppen ein, denen ein Hochschulabschluss auf traditionellem Wege verschlossen bleibt. Die Anlage der „neuen“ BA/MA-Studienprogramme ist dagegen weiterhin stark geschlossen: Sie adressieren primär „klassische“ Abiturient/innen, für die sich die Hochschulen in ihrem Selbstverständnis zuständig fühlen. Der akademische Abschluss „entlässt“ Absolvent/innen in das Berufsleben, d.h. die Programme sind weiterhin von der Idee getragen, eine „fertige“ Ausbildung bzw. ein bestimmtes, durch eine Fachtradition definiertes Curriculum zu vermitteln.

Damit wird deutlich, dass die Studienangebote die Bedarfe eines wachsenden Anteils der Bevölkerung und die gesellschaftliche Anforderungen insgesamt nicht mehr angemessen abdecken können. Seit Jahren steht die Forderung im Raum, Hochschulen sollten sich verstärkt als Anbieter von wissenschaftlicher Weiterbildung der Zielgruppe der Berufstätigen öffnen. Entsprechende Aktivitäten finden bislang regelmäßig „am Rande“ von Hochschulen statt, sie werden als eine Art Zweit- oder Nebenverwertung der eigentlichen Lehre betrachtet und entsprechend organisiert. Die Forcierung von zielgruppenspezifischer „Weiterbildung“ und entsprechende organisatorische Lösungen sind sicherlich ein Weg, um diese Zielgruppen zu adressieren. Gleichwohl ergänzt hier Weiterbildung die eigentliche Lehre additiv. Dieser Logik einer systematischen Differenz von „Studium“ und „Weiterbildung“ unterliegt auch die Unterscheidung von „konsekutiven“ und „weiterbildenden“ Master-Programmen: Erstere werden im Anschluss an einen „grundständigen“ Bachelor absolviert, letztere nach Einstieg in das Berufsleben. Bei genauerer Betrachtung und auch im internationalen Vergleich ist diese Unterscheidung kaum tragfähig.

Im vorliegenden Vorhaben wird deswegen der Frage nachgegangen, was sich aus einer alternative Perspektive für Hochschule ergibt: von der (randständigen) „Weiterbildung“ hin zum Selbstverständnis als Hochschule als Anbieter für das lifelong learning. Zu untersuchen sind damit vorliegende, grundständige und weiterbildende Studienangebote mit der Frage, inwieweit die Ansprache traditioneller und nicht-traditioneller Zielgruppen möglich ist bzw. stattfindet und welche Konsequenzen dies für verschiedene Aspekte von Studium und Lehre implizieren würde: Was bedeutet dies für die inhaltliche Anlage, die methodische, organisatorische und mediale Ausgestaltung von Studienangeboten? Was bedeutet dies grundsätzlicher für die Hochschulstrategie und -entwicklung, das Management und Marketing von Studien? Dies macht es erforderlich, den student life cycle anders zu interpretieren. Es stellen sich Forderungen zur Anlage des „Erststudiums“, welches nicht mehr isoliert und abgeschlossen für sich anzulegen ist. Die zentrale Fragestellung des Projektes bezieht sich damit auf die empirische Analyse von Erfolgsfaktoren einer solchen lifelong learning Perspektive an Hochschulen und der Erprobung unterschiedlicher Ansätze einer institutionellen Umsetzung.

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